Der Roman

„Der zweite Lauf“ lautet der Arbeitstitel meines ersten Romans. Und hier geht’s direkt zur Leseprobe mit den ersten zwanzig Seiten. Ich freue mich, wenn eure Kommentare helfen zu entscheiden, ob ich noch einmal einen Verlag suche oder selbst veröffentliche oder den Roman hier als Serie für euch einstelle.

Inhalt & Entstehungsgeschichte

Alles begann mit dem Bild des strudelnden Wassers, in dem etwas Lebendiges versank. Waren es Kätzchen? Stand ich wirklich als Fünfjährige mit meinem Onkel auf einer schmalen Brücke und sah das Ding im Strudel um sein Leben kämpfen?

Oder waren die beiden Fuchsjungen der Impuls? Ein Coaching-Kunde erzählte mir davon, als Kind spielte er mit ihnen. Die Erinnerung ist ein trügerisches Geschöpf und doch, so scheint mir, beginnt jedes Schreiben mit ihr.

2019 entstand das Kapitel mit den beiden gezähmten Füchslein, dem zehnjährigen Josef und dessen brutalem Vater. Die Szenerie gestaltete ich, wie ich sie aus meiner Heimat kenne: Gletscher, ein kleines Dorf hoch oben in den Bergen, Skifahren, Sport, Tourismus und Schützenvereine mit sehr konservativen Ansichten – Tirol wie es war und heute noch ist.

Die Geschichte wuchs über die Jahre weiter. Ich fragte mich, was passiert mit einem Menschen, wenn er unter solchen Bedingungen, seelisch verletzt, aufwächst. Einiges davon wusste ich aus eigener Erfahrung, aber natürlich wurde Josef eine ganz eigenständige Figur.
Ein Mann mit einer besonderen Begabung, er hat ein fotografisches Gedächtnis für Maschinen und Motoren. Und er ist ein attraktiver Mann – die Frauen mögen ihn.
Aber hilft ihm das, gut durchs Leben zu kommen? Bei dem dominanten Vater, der den Sohn für eigene Zwecke benutzt. Einem Leben, das ihn zum begnadeten, besessenen Maschinen-Nerd macht. Er ist an einem Ort aufgewachsen, wo man zur Begrüßung nicht immer „Servus“ oder „Griass Di“ sagt. Oft ist das erste: „Magst a Schnapserl?“ Ein gestandener Mann oder einer, der ein gestandener Mann sein möchte, sagt da nicht nein. Es ist eine gefährliche Mischung, vor Josef liegt großer Erfolg, aber auch die Möglichkeit absoluter Niederlage.

Ähnliches kenne ich auch aus meinem Leben und aus dem Leben vieler Menschen, die ich als Coach unterstützen durfte. Erfolg und Niederlage sind Geschwister – oft ist es eine Lebensaufgabe zu lernen, wie man mit beiden maßvoll umgeht.

Die Arbeit führt Josef nach Südkorea. Ein Millionenprojekt. Der Druck ist enorm. Das Unheil nimmt seinen Lauf. Besiegt er seine bitteren Dämonen? Hilft ihm die Liebe zur Tochter Nadja? Nach Jahren des Unterwegsseins geht er schließlich nach Hause zurück, in den Gletscherort St. Luz. Endlich stellt er sich seiner Vergangenheit und seinem Vater.

Hier nun die ersten 20 Seiten dieses Romans, die Geschichte von Josef Bucherer.

Ich freue mich, wenn eure Kommentare helfen zu entscheiden, ob ich noch einmal einen Verlag suche oder selbst veröffentliche oder den Roman hier als Serie für euch einstelle.

Leseprobe

TEIL 1

St. Luz, 1989
Die Füchse

Der Bucherer-Hof glänzte in der frühen Sonne, dahinter, am Berghang, standen wie eine verwilderte Truppe die jahrhundertealten Lärchenstämme des Langwalds. Weit droben sah Josef die grauen Schneefelder der Gletscher, unten, am Talschluss, das Dorf St. Luz. Er mochte die Häuser mit den roten Fensterläden und die holzvertäfelten Bauernhöfe, er mochte auch die kleine Kirche. Was er nicht leiden konnte, war der Bach, die St. Luzer Ache. Sie durchquerte das Dorf und war weit mit ihrer wichtigtuenden Plapperei zu hören.
Josef prüfte den Stand der Sonne und nahm schnell die weißen Baumwollstutzen von der Leine. Eigentlich waren sie ganz neu, von der Mutter extra für heute gekauft. Aber er hatte sie schon gestern angezogen und natürlich prompt Grasflecken draufgebracht. Gut, dass es der Vater nicht mitbekommen hatte. Die Mutter war nur ein bisschen ärgerlich gewesen, für langes Schimpfen hatte sie nie Zeit. Er lief ins Haus, leise die Treppe hoch und zog eilig sein Festgewand an. Die knielange Lederhose, weißes Hemd und die Stutzen.
Dann ebenso leise wieder hinunter, das Knarren der Holzstufen konnte er allerdings nicht verhindern. Noch war kein anderer auf, er hatte Glück. In der Küche nahm er das gekochte Herz aus der Schüssel im Kühlschrank, schnitt ein ordentliches Stück ab und stopfte es in eine Plastiktüte. Lady war die Berner Sennenhündin des Vaters und sein erklärter Liebling. Martin, dachte Josef, während er den Rest des Herzes in große Stücke teilte, Martin sein kleiner Bruder, war der Liebling der Mutter. Und ich bin der Große, dachte er und wusste nicht recht, ob er das so gut fand. Aber wenn seine Mutter zu ihm sagte:
„Mein Großer, wenn ich dich nicht hätte“, war es doch schön.
Er warf die Fleischbrocken in Ladys Futterschüssel,
aus der Speis nahm er eine Dose des Spezial-Hundefutters, das der Vater vor kurzem für Lady bestellt hatte, weil sie so dünn geworden war. Er arrangierte die Marmeladengläser neu, um die Lücke zu kaschieren. Hoffentlich merkte der Vater nichts.
„I geh scho voraus“, rief er in der dämmrigen Diele in Richtung Treppe, zog die Haferlschuhe an, nahm den Filzhut mit der Feder vom Haken und öffnete vorsichtig die Eingangstür mit dem Eisenbeschlag. Lady schoss herein, Josef tätschelte sie.
„Bald kriegst du wieder dein ganzes Futter, aber heute brauch ich’s noch für Peter und Paul“, sagte er dem Hund ins Ohr und dann lauter:
„Ich hab‘ die Lady schon gefüttert, ich bin dann in der Kirche.“
Er wickelte die Plastiktüte und die Dose in seinen Strickjanker, aus der Schale auf der Truhe steckte er für sich zwei Äpfel ein. Ein Janker am 15. August bei mittags 30 Grad war ein Witz. Aber wahrscheinlich würde es eh keinem auffallen, alle waren mit Feiern beschäftigt. Heute war der Hohe Frauentag, Festtag in ganz Tirol, und seine Füchse waren inzwischen ein halbes Jahr alt. Leise zog Josef die Tür hinter sich zu und trat auf den staubigen Vorplatz.

„Wer so früh aufsteht, hat entweder ein schlechtes Gewissen oder Übles vor.“
Die Stimme dröhnte von oben herab. Josef schaute hinauf. Der gewaltige Oberkörper seines Vaters leuchtete im weißen Unterhemd hinter den Geranien auf dem Balkon, auf dem Kopf trug er schon den Hut des Schützenhauptmanns.
„Und, was hast du Übles vor?“, fragte Josef.
Verdammt, das war wieder frech. Dabei wollte er den Vater gerade heute nicht reizen. Aber es rutschte ihm immer so raus. Und manchmal mochte es der Vater ja, wenn er frech war. Dann wieder war es genau das Falsche und man musste sich schnell in Sicherheit bringen. Jetzt lachte er, drohte aber mit dem Zeigefinger.
„Komm nicht zu spät. Wo willst du denn überhaupt hin mit dem Janker? Hast du Angst, dass es friert?“
„Nur Schutz vor feuchter Aussprache.“
„Pass auf, junger Mann, dass du mir nicht zu nahe kommst. Dann hilft dir auch kein Janker. Mach, dass du verschwindest.“
Josef ließ es sich nicht zweimal sagen. Er bog um die Ecke aus der Sicht des Vaters. Wahrscheinlich entwischten dem gerade ein paar Speicheltropfen. Das passierte, wenn er wütend war. Und wenn er trank. Meistens ging beides zusammen. Heute würde er viel trinken. Nach der Messe in der Dorfkirche war die Prozession, bei der die Marienstatue durch die Straßen getragen wurde. Danach zogen alle Einheimischen und die vielen Touristen in die Festhalle. Dort wurde gefeiert, mit Bier und unzähligen Schnäpsen bis in den frühen Morgen. Der Vater war immer einer der Letzten, die gingen. Er sagte, das sei er seiner Ehre als Schützenhauptmann schuldig.

Josef wartete einen Moment, bis er vom Balkon nichts mehr hörte. Dann schlug er den Weg zum Langwald ein. Er machte dabei einen großen Bogen, damit er weder vom Hof noch von der umgebauten Scheune aus gesehen werden konnte. Dort wohnten die Feriengäste der Bucherers.
In ein paar Minuten war er bei der Kapelle am Waldrand. Sie hatte keinen Namen und wurde nicht gepflegt. Sie war leer, bis auf ein fast verblasstes Kreuz mit einem schmerzverzerrten Jesus dran, aufgemalt auf der Stirnwand. Josef ging hinein.
„Jesus, Jesus“, sagte er und kniete sich auf die zerbrochenen Fliesen, „das haben wir gut gemacht.“
Er dachte, dass die Füchse nun alt genug waren, er brauchte sie nicht mehr zu füttern und konnte sie auswildern. Und Jesus, davon war er überzeugt, hatte geholfen, dass sie so weit gekommen waren.
„Danke“, flüstere er und stand auf, „jetzt paß bitte bloß noch auf, dass der Vater sie nicht erwischt.“

Draußen wickelte er das Futter aus dem Janker und schlüpfte hinein. Dann begann er den Aufstieg zu seinen Füchsen und dachte, wie schnell die Zeit vergangen war.
In einer Nacht Anfang Mai hatte der Vater die Füchsin erschlagen, als sie mit einem gerissenen Huhn aus dem Stall schlich. Ein paar Tage später hatte er ihren Mann, den Fuchs geschossen und triumphierend vor der Hoftür auf den Boden geworfen.
„So, jetzt kann die Brut verrecken. Jetzt haben sie keinen mehr, der sie mit unseren Hühnern füttert, und wir haben Ruhe“, hatte er gesagt.
Josef erinnerte sich ganz genau. Gleich am nächsten Morgen, lange vor Schulbeginn, war er die Füchse suchen gegangen. Er konnte die Bilder nicht aushalten, die sich in seinem Kopf breit gemacht hatten: Die kleinen Füchse, wie sie aus dem Bau kamen und vor Hunger winselten. Wie ihre schmalen, wolligen Körper schnell abmagerten und sie nach kurzer Zeit zu schwach waren, sich zu erheben.
Den blassen Jesus in der Kapelle hatte er gleich um Hilfe gebeten. Überzeugt, dass der auf seiner Seite war. Hatte nicht Jesu Vater die Welt geschaffen und alle Geschöpfe?
„Gell, Jesus“, hatte er gesagt „das willst du auch nicht, dass die so elendiglich zugrunde gehen. Und wenn der Pappa den Hühnerstall mal ordentlich abdichtet, passiert so was auch nicht mehr. Ich würd’s ja machen, aber er sagt, dazu bin ich zu klein. Dabei könnt’ ich das locker.“
Obwohl eines der Fuchskinder weiblich war, hatte er sie Peter und Paul genannt. Das, hatte er gedacht, würde Jesus gefallen.
Der Boden im Langwald war weich von den heruntergefallenen Nadeln, zwischen den Stämmen wuchsen mächtige Polster mit langem Gras, auf dem Tau lag. Obwohl es noch kühl war, roch Josef den Duft des Harzes, der mit jeder Sonnenstunde intensiver werden würde. Tief wachsende Äste versperrten den Weg und schnellten hinter ihm hoch, wenn er sie zu Boden drückte und darüber stieg. Es gab kürzere und längere Wege zu der Lichtung, an deren Rand seine Füchse hausten. Josef wählte die weiteste Strecke. Es ging steil bergauf, die Graspolster waren rutschig. Aber seine Füße wussten von selbst, wo sie hintreten mussten. In den Händen balancierte er Futter und Dose, der Janker bewahrte sein Hemd davor, dass es irgendwo hängen blieb oder grüne Flecken bekam. Manchmal knackten trockene Äste laut unter seinen Schritten. Aber hier war keine Gefahr mehr, dass man ihn hörte, zu weit weg war er schon vom Hof. Außerdem wurden alle Geräusche überlagert vom sprudelnden Rauschen eines Baches, der in der Nähe aus dem Berg trat und zur Ache im Dorf eilte. Bald war Josef an seiner Lieblingsstelle. Der Hang wurde flacher und lief in sanftem Schwung auf der Lichtung aus. Die Bäume standen weniger dicht, die Sonnenstrahlen brachen sich im Tau, jeder Schritt führte in ein Gleißen aus Blau und Gold und Grün. Aber die Juchzer, die er sonst hier den Berg hinaufschickte, blieben ihm heute in der Kehle stecken.

Paul saß auf dem umgestürzten, hohlen Baumstamm, dem Lieblingsplatz der beiden, Peter war nicht zu sehen. Doch als Josef mit der Zunge schnalzte, schob er das spitznasige Gesicht mit den großen Ohren aus der dunklen Röhre. Josef setzte sich in etwas Entfernung auf den Stamm, zerteilte das Herz mit dem Taschenmesser. Die Füchse saßen da wie junge, elegante Hunde und beobachteten ihn aufmerksam.
„Bravo, schaut euch das alles nur ganz genau an. Ihr habt recht, erst schauen, dann entscheiden. Nicht wie die Lady, die wanzt sich gleich an alles ran. O mei, ich werd euch so vermissen.“
Er spürte, wie ihm die Tränen aufstiegen, und konzentrierte sich darauf, das Futter in zwei genau gleich große Portionen zu teilen. Eine häufelte er links von seinen Füßen, die andere rechts. Dann legte er die Hände auf die Oberschenkel, blieb ruhig sitzen. Die Füchse kamen und fraßen ohne Hast.
„Na, ihr habt gar nicht so viel Hunger. Habt ihr euch schon selbst versorgt? Schlau seid ihr. Das wird schon alles gut mit euch, ich brauch mir gar keine Sorgen machen.“
Er glitt langsam vom Stamm, setzte sich auf den Boden zog den Janker aus und legte ihn in den Nacken. Die Füchse hatten zu Ende gefressen. Josef streckte die Beine aus, wartete. Nach dem Fressen ließen sie sich manchmal streicheln. Paul, der zutraulichere der beiden, legte sich neben Josef. Mit der ausgestreckten Hand konnte er ihn gut erreichen. Das rötliche Fell war warm, der üppige, rotblonde Schwanz wischte seidenweich über Josefs Unterschenkel. Paul legte mit einem tiefen Atemzug den Kopf zwischen die Vorderpfoten und schloss die Augen. Josef lehnte sich gegen den Stamm, den Kopf auf dem Janker, und vor seinem Blick verschwamm der Sommerhimmel.
Wie spät war es? Josef schoss hoch, die Füchse weg, die Lichtung schon blasser unter der Sonne. Die stand inzwischen schräg über den Bäumen. Die Messe begann um neun. Es musste kurz davor sein. Die Angst packte ihn im Nacken, trieb ihn vorwärts. In großen Sprüngen hetzte er bergab, schlitterte, rutschte auf Fersen und Po, keine Rücksicht auf das Hemd, Zweige im Gesicht, egal, weiter, weiter. Er musste es bis zum Einzug der Schützen schaffen, dann konnte er hinter ihnen reinhuschen. Im vollen Lauf stoppte er plötzlich. Die Jacke, die Dose. Vergessen bei Peter und Paul. Es schüttelte ihn, wenn ihm der Vater bloß nicht draufkam. Weiter, weiter, vorbei am Hof, auf der Straße runter nach St. Luz. Er stoppte wieder und lachte auf. Wie verrückt, was für ein Glück. So konnte er sich noch einmal verabschieden von ihnen. Heute Abend, wenn die anderen noch feierten.
An der Treppe mit dem hölzernen Geländer und den Bohlenstufen, die von den paar großen Höfen des Oberdorfs ins Unterdorf führte, blieb er stehen. Von hier aus überblickte er alles. Den Platz in der Mitte, das Zentrum von St. Luz, die Häuser und die Festhalle mit dem Grillwagen davor und auf der anderen Seite der Ache, verbunden durch eine Holzbrücke, die Kirche mit dem Friedhof rundherum. Dort drängten sich die Menschen. Jetzt läuteten die Glocken, die bunte Menge schob sich vorwärts, wurde an den Eingängen ins Kircheninnere gesogen. Die Schützen standen bereit zum Einzug in die Kirche, er konnte sie als graue Formation an ihren Uniformen erkennen. Er würde es nicht rechtzeitig schaffen, keine Chance.
*
Die Seitentür knarrte, aber Josef gab sich keine Mühe, leise zu sein. Der Pfarrer sagte gerade: „Herr, erbarme dich“, und die Menschen – sie standen bis in die Seitengänge – antworteten: „Christus, erbarme dich.“
Die Hand schmerzte mehr, als er gedacht hatte. Er hielt sie vor der Brust und ging, staubig von Kopf bis Fuß, die Knie blutig aufgeschlagen, zur vordersten Bank. Dort war seine Mutter mit Martin, sein Vater stand an der Spitze des Schützenspaliers weiter hinten. Aus dem Augenwinkel nahm er das erschrockene Gesicht seines Freundes Franz wahr, mit dem er in der Skigruppe war. Er saß in der zweiten Reihe. Der Gesichtsausdruck seiner Mutter und Martins ehrfürchtiger Blick auf seine Knie bewiesen Josef, dass er so schlimm aussah wie erhofft. Er rückte in die Bank neben die beiden.
„Die Treppe“, sagte er und zeigte ihr die Hand, in der unter der Haut, bis ins Fleisch, ein Holzschiefer steckte. Es hatte ihn einigermaßen Überwindung gekostet, die Hand am rissigen Geländer der Dorftreppe zu lassen und sich gleichzeitig die Stufen hinunterzuwerfen. „Bin gestolpert.“ Sie nickte. Der Zustand des Geländers war ein allgemeines Ärgernis im Oberdorf.
„Haltest du’s noch aus einen Moment?“
„Geht scho.“
Während der Lesung, als man wieder sitzen durfte, entfernte sie den Splitter. Dann schickte sie ihn nach Hause. Umziehen, Jod auf die Wunden, schnell wiederkommen. Sie schob ihn aus der Bank, er wagte nicht, seinen Vater anzusehen.

„Haben sie dich zum Schluss etwa noch gebissen?“
Franz hatte sich auch aus der Kirche geschlichen und ihn draußen abgepasst.
„Ist nicht so schlimm, habe ich selbst gemacht.“
Franz schüttelte den Kopf. Josef freute sich über sein besorgtes Gesicht.
„Weil du zu spät warst?“
Josef nickte und saugte an der Wunde in der Hand.
„Und, ist heut der letzte Tag?“
„Ja, hab ich doch g’sagt. Ich muss später noch amal hin, ich hab mein’ Janker dort vergessen. Und ich hab was B’sonders für sie.“
„Das Feiertagsgulasch?“
Josef kicherte. Er fand es immer wiedersuper, dass Franz, zwei Jahre älter als er, sein Freund war. Franz war der beste Skifahrer im Dorf, Josef der zweitbeste.
„Zum Abschied, verstehst du?“
„Möchtest du, dass ich mitkomm, heut Abend? Ich würd sie eh gerne noch mal sehen.“
Josef wurde es ganz warm vor Freude. Wenn Franz mitkam, würde es einfacher, Lebewohl zu sagen. Franz hatte geholfen, die Füchse durchzubringen. Er war der Sohn des Dorfwirtes, Futter aus der Gasthausküche mitgehen zu lassen war einfach. Und trotzdem war von Anfang an klar gewesen: Peter und Paul gehörten Josef, Franz hatte nie einen Anspruch erhoben.
*
„Aus dem Weg.“
Die Lippen des Vaters bewegten sich kaum beim Sprechen, seine Augen sahen über Josef hinweg, aber der verstand deutlich. Er stellte sich an die Seite, dabei hielt er seine verpflasterte Hand wie eine Opfergabe und sagte unhörbar:
„Ich kann nichts dafür, die Treppe.“
Wieder war er zu spät. Er war an der Kirche just als sich die Tür öffnete und der Vater, den Säbel über der Schulter präsentierend, den Umzug eröffnete. Josef fühlte sich klein, verloren. Könnte ihm bloß jemand helfen. Ihn und die Füchse wegbringen an einen Ort, wo sie immer zusammen sein konnten.
Das Allerheiligste wurde vom Pfarrer unter einem Baldachin vorbeigetragen. Pflichtschuldig kniete Josef sich hin. Blieb knien, weil gleich darauf die Statue der Jungfrau Maria folgte. Sie stand auf einem Brett. Vier Kommunionmädchen in weißen Kleidern stemmten es mühsam in die Waagrechte. Josef kannte sie alle aus der Schule. Grund- Haupt- und Realschule waren in einem Gebäude untergebracht.
„Kannst uns ruhig helfen, sie ist schwer“, flüsterte ihm eine übermütig zu. Die hübsche Anna, Franz’ Schwester. Josef bekam einen roten Kopf und schaute schnell wieder nach unten. Endlich kamen die normalen Leute, die Mutter, als Frau des Schützenhauptmannes, an der Spitze. Sie trug den schlafenden Martin auf dem Arm.
„Wo warst du so lange? Hol mir den Buggy, er steht an der hinteren Seitentür.“
Der Buggy hatte dicke, gut gefederte Reifen. Trotzdem konnte Josef ihn auf den Kieswegen des Friedhofs schwer schieben. Er wich auf die Rasenpfade zwischen den Gräbern aus. Hier lief es, er fuhr ein paar schnelle Rennkurven. Plötzlich hatte er ein unangenehmes Gefühl im Rücken und drehte sich um. Die Prozession war auf der Hauptstraße angelangt, sie führte oberhalb des Friedhofs in Richtung Dorfplatz. An der Spitze der Vater, eine überlebensgroße Statue, die von ihrem Sockel gestiegen war. Wallender Bart über weißem Hemd, Hut mit drohender Feder, Säbel blitzend in der Sonne. Er sah Josef an. Er sah alles. Überall. Er hatte alles gesehen. Jede Kurve, die Josef auf der geweihten Erde gedreht hatte. Die Angst zog ihm eine Furche durchs Herz. Schnell schob er den Buggy zur Mutter und ging neben ihr, sang und betete.
„Maria“, flüsterte er, „hilf mir, dass ich nicht wieder frech werde. Grad heut nicht. Damit bloß alles gut geht.“
*
In der Festhalle, deren eine Längswand ganz geöffnet werden konnte, saßen die Menschen an langen Holztischen. Sie aßen, tranken, Josef roch das Bier, Schwenkbraten und Schweiß und wenn sie sich unterhielten, beugten sie sich vor und schrien, um sich über die Märsche der Kapelle hinweg zu verstehen. Er kam sich vor wie im Inneren eines dröhnenden Motors. Die Musik gab den Takt, die sich hin und her beugenden Körper waren Kolben, die das Luftgemisch weiter und weiter verdichteten, bis es in Geschrei und Gelächter explodierte.
Josef half Anna „Kleine Feiglinge“ zu verkaufen. Das war neu. Franz’ und Annas Vater, der Wirt vom Gasthaus „Zum Krug“, wollte es mal mit dem süßen Wodka-Sirup-Gemisch probieren. Es lief wie geschmiert, vor allem die Frauen mochten es lieber als die scharfen Schnäpse. Josef trug das Tablett mit den Fläschchen, Anna stellte sie auf den Tisch. Bald war das Tablett leer.
„Wir sind ein gutes Verkaufsteam, wir können zusammen Geschäfte machen“, sagte Anna und lachte Josef an, so dass er ganz stolz war und sich freute, dass sie ihn ausgesucht hatte.
„Komm, wir holen neue, vielleicht will meine Mutter auch einen.“

Die zuständige Kellnerin in der Getränkeausgabe suchte zwischen Kisten mit „Almdudlern“, Bierfässern, Kartons voll Schnapsflaschen, fand aber nur noch ein paar Fläschchen.
„Das lohnt nicht mehr. Lasst mal, es war ohnehin nur ein Versuch, ob’s läuft. Geht lieber spielen.“
„Ich möchte meiner Mutter gerne noch einen bringen.“
Die Kellnerin gab Josef zwei Stück, er stopfte sie in die Taschen seiner Lederhose.
*
Vater und Mutter saßen an einem Tisch mit dem Bürgermeister, der auch den Skilift in St. Luz betrieb, dem Fremdenverkehrsdirektor und den zwei anderen großen Bauern. Mit dabei auch die Frauen, alle in Tracht.
„Komm her, mein Sohn, zeig dem Bürgermeister deine Hand.“ Der Vater zog Josef zu sich: „Ich sag’s ja schon seit Jahren, dass diese Treppe eine Schande ist.“
Josef musste sich setzen und die Hand mit dem Pflaster auf den Tisch legen.
„Ist schon besser jetzt.“
„Besser, besser, es hätte überhaupt nicht passieren dürfen.“ Der Vater wirkte empört, seine Lippen waren aber nur etwas feucht. Der Bürgermeister lehnte sich zu ihm: „Ist doch gut jetzt, Sepp. Ich hab’ ja gesagt, dass wir das im Gemeinderat besprechen. Reg dich nicht auf, erzähl uns lieber einen Witz.“
„Sepp hin, Sepp her, mein Sohn wurde von einer öffentlichen Treppe verletzt. Eigentlich müssten wir Schmerzensgeld verlangen. Noch dazu ist es eine kostbare Skifahrerhand.“ “
Er hatte einen grollenden Ton, aber Josef merkte , der Schlagabtausch machte dem Vater Spaß. Er liebte es, wenn alle ihm zuhörten, und wenn er gut drauf war, unterhielt er ganze Runden mit seinen Witzen.
„Okay, gewonnen. Und jetzt gebe ich eine Runde aus und gut is’“,sagte der Bürgermeister. Er berührte leicht Josefs Hand.
„Auch einen, Josef? Gegen den Wundschmerz?“
Er lachte, Josef lachte mit, natürlich war es ein Scherz.
Eine der Kellnerinnen, die mit Tabletts voller Schnapsgläser herumgingen, stellte vor jeden Erwachsenen eines. Der Vater tippte auf den Tisch vor Josef.
„Hier auch.“
Der Bürgermeister schaute erschrocken, keiner sagte was.
„Stoß mit mir an, Josef! Ich dachte schon, ich muss dir eine langen, weil du zu spät warst. Aber die Mamma hat mir gesagt, dass es die Treppe war und du kannst nichts dafür. Also, Prost!“
Josef sah die Mutter an.
„Nur anstoßen und einen winzigen Schluck, dann gibst du den Rest dem Pappa.“
Josef stieß mit seinem Vater an, die anderen prosteten auch und er trank.
Plötzlich war sein ganzer Mund voll mit einer aufregenden Schärfe, verlockend und abstoßend in einem. Er schluckte, hustete, verfolgte, wie das nasse Feuer im Magen ankam, sich ausbreitete und im Verglühen etwas verströmte, was er nicht kannte. Aber es war gut. Die Erwachsenen beobachteten ihn gespannt, sein Vater lachte und haute ihm auf den Rücken.
„Bravo. Das ist mein Sohn.“
„Genug jetzt“, sagte die Mutter und wollte sein Glas an sich nehmen. Aber Josef war schneller, sagte „Prost“ und erwischte noch ein paar Tropfen.
„So, jetzt langt’s aber. Schleich dich!“ Der Vater haute ihm nochmal so fest auf den Rücken, dass es wehtat. „Du bist eh gleich dran.“
Josef wollte nach vorne, aber seine Mutter hielt ihn noch mal fest.
„Das war eine absolute Ausnahme, verstanden.“
„Der Pappa fand’s aber gut.“
„Ich will nichts mehr davon hören.“
Josef drehte sich zum Gehen, da griff sie noch einmal nach ihm.
„Du, wieso hattest du es eigentlich so eilig an der Treppe, du warst doch so früh aus dem Haus?“
„Ich war beim Franz, aber dann habe ich die Skinadel vergessen und bin noch einmal nach oben.“
„Komisch, wir haben dich gar nicht gesehen.“
„Ich bin hintenrum gegangen. Schau.“
Er nestelte die Skinadel, eine rote Metallraute mit einem bronzenen Skifahrer darauf, aus einer der tiefen Taschen seiner Lederhose. Dabei stieß er auf die Fläschchen. Er wollte sie seiner Mutter geben, da wurden „die drei außerordentlichen Ski-Buben unseres Sportvereins“ vom Bürgermeister aufgerufen. Josef sah Franz auf die Bühne steigen und beeilte sich hinterherzukommen. Im Gehen steckte er die Nadel an.

Josef wusste, dass viele St. Luzer es hirnrissig fanden, mitten im Sommer Skifahrer zu ehren. Aber der Bürgermeister und der Fremdenverkehrsdirektor, der auch der Vorsitzende des Sportvereins war, bestanden darauf. St. Luz hatte vor Jahren einen berühmten Abfahrtsläufer hervorgebracht. Das wollte man wiederholen, deshalb leistete sich die Gemeinde einen Jugendtrainer und das sollten auch die Sommertouristen mitbekommen.
Auf dem Weg zur Bühne kam Josef an Sommergästen der Bucherers vorbei.. Das Ehepaar Winkler aus Düsseldorf. Josef fand sie nett, und wenn er ihnen begegnete, grüßte er immer höflich. So auch jetzt – im Vorbeigehen machte er einen eiligen kleinen Diener. Herr Winkler lächelte: „Mach schnell, lass dich nicht aufhalten, du bist jetzt wichtig.“
Oben stellte Josef sich neben Franz. In ein paar Jahren sollten sie auf das Ski-Internat gehen und für den nationalen Kader trainiert werden.
„Unsere drei Besten. St. Luz dankt euch für euren Einsatz. Zum Zeichen unserer Anerkennung bekommt ihr wieder die St. Luzer Skinadel. Dieses Jahr in Gold, Silber und Bronze. Bald habt ihr eine ganze Sammlung.“
Alle lachten. Josef war locker; das Warme, Verströmende füllte ihn noch ganz aus.
Im Jahr zuvor war er zum ersten Mal Dritter geworden, schüchtern und froh, wieder von der Bühne runterzukommen. Da war ich noch ein Baby, dachte er verächtlich und konnte es gar nicht mehr verstehen. Franz bekam den goldenen Skifahrer angesteckt und machte einen höflichen Diener.
„Wo hast denn deine Nadel, Josef?“
Der Bürgermeister stand jetzt bei ihm und wollte die neue Nadel, wie bei Franz, neben die vom Vorjahr stecken.
„Musst schon schaugen mit die Augen“, sagte Josef und lachte ihm ins Gesicht. Franz gab ihm einen Rempler in die Seite.
„Was is denn? Hier ist sie doch.“
Josef sah an sich herunter. Aber die Nadel war nicht da. In seiner Herzgegend kitzelte ihn etwas, so was wie ein vorwitziger Grashalm, der aus einer Ritze lugt.
„Egal, ich krieg eh eine neue“, sagte er. „Kannst mir die vom nächsten Jahr gleich mit anstecken, dann hab ich wieder zwei.“
In der eintretenden Stille hörte und sah Josef alles gleichzeitig. Von draußen tuckerte ein Traktor, wer fährt denn heute Traktor? Ein Schatten zog über die Halle, offenbar Wolken, aha, wahrscheinlich gibt es ein Gewitter, deshalb fährt da noch schnell einer aufs Feld. Und eine flache Hand knallte auf einem Holztisch. Das ist der Vater, hoffentlich bleibt er auf seinem Platz. Die Furche in Josefs Herz, von der er gerade noch gedacht hätte, sie wäre für immer weg, öffnete sich. Ich hau ab, nein, ich versteck mich hinter Franz, nein, was soll ich tun? Er erstarrte. Sah seine Mutter den Vater zurückdrängen. Sah sie auf sich zukommen, sich bücken, wieder aufstehen, noch ein Schritt, sie war bei ihm. In der Hand die verlorene Nadel.
„Entschuldige dich, schnell.“
Sie flüsterte. Übertönt von der grollenden Stimme seines Vaters: „So benimmt sich ein Bucherer nicht.“
„Hast halt einen Schwips, Josef“, sagte der Bürgermeister gemütlich, steckte ihm die Nadel an, lächelte und zog ihn leicht am Ohr: „Lern was draus.“
„Ja, Herr Bürgermeister, entschuldigen Sie.“
„Lauter“, der Vater erhob sich halb von seinem Platz.
„Entschuldigung, Herr Bürgermeister.“
Das kam laut, deutlich – und zweistimmig. Franz sprach es synchron mit Josef, stand ganz dicht an seiner Seite. Und noch einmal: „Entschuldigung, Herr Bürgermeister.“
Josef hörte Gelächter, es flog zusammen mit den Wolkenschatten, die nun schneller aufeinanderfolgten, über die Tische bis in alle Ecken der Festhalle. Er sah erleichtert, dass der Bürgermeister die Musikanten auf die Bühne winkte. Sie spielten sofort ein beliebtes Heimatlied, bei dem sich alle Einheimischen erhoben und mitsangen: „Tyrol isch lei oans, isch a Landl a kloans, isch a liabs, isch a feins und des Landl isch meins.“
Mit dem letzten Ton zog Josef Franz am Hemd, sie sprangen von der Bühne und flitzten aus der Halle.
Sie liefen und lachten, bis sie Seitenstechen bekamen. Schnell waren sie auf dem Hang oberhalb der Festhalle und warfen sich ins Gras. Noch immer konnten sie nicht aufhören zu lachen, sagten wieder zweistimmig: „Entschuldigung, Herr Bürgermeister“, und lachten weiter. Dann probierten sie es mit: „So benimmt sich ein Bucherer nicht“, und kugelten sich vor Vergnügen.
Nach einer Weile funktionierten die Sprüche nicht mehr. Sie saßen nebeneinander, Josef schaute konzentriert auf den Boden, er suchte einen Grashalm, auf dem man gut pfeifen konnte. Aber das half auch nicht gegen die Angst, die langsam in seinen Bauch kroch. Noch mehr, als Franz sagte:
„O mei, das wird was geben. Dein Vater. Alle haben ihn ausgelacht.“
„Wenn er mich jetzt erwischt, wär’s schlimm. Aber heut Nacht, wenn er kommt, schläft er schnell ein. Morgen hat er Kopfweh und geht gleich auf die Alm.“ Das klang gut, fand Josef. Aber als Franz ihn zweifelnd ansah sprang er doch wie gestochen auf:
„Komm, wir gehen. Bevor’s anfangt zu regnen.“
Die Wolken verdeckten die Sonne inzwischen fast zur Gänze. Nur durch ein Loch fielen noch Strahlenbündel und ließen die Konturen der Landschaft und Häuser plastisch hervortreten. Josef spürte den warmen Wind von den Bergen kommen und wusste: Wenn der aufhörte, würde das Gewitter losbrechen.
Im Aufstehen schauten sie noch einmal zur Halle. Josef wünschte, er hätte es nicht getan. Dort stand seine Mutter, neben ihr im Buggy Martin. Sie winkte ihnen.
„Wahrscheinlich will sie, dass ich ihn mit zum Hof nehme. Dann kann sie besser auf Pappa aufpassen.“
Sie sahen sich an. Es gab kein Vertun. Unlustig schlugen sie den Weg nach unten ein.

Martin nervte. Alle paar hundert Meter wollte er was anderes. Selber gehen. Im Buggy sitzen. Pipi machen, aber es kam nichts. Schließlich setzte Josef ihn unter Protestgeschrei in den Wagen und schnallte ihn fest. Gemeinsam schoben Franz und er den Buggy die steile Straße hinauf zum Bucherer-Hof. Kurz bevor sie oben ankamen, schlief Martin ein.
Josef horchte – der Hof lag still, auch in den Apartments in der Scheune regte sich nichts. Die vier Kühe und die beiden Haflinger standen wartend am Zaun. Sie waren Streichel-und Schauvieh für die Feriengäste. Josef lief zur Scheune, ein paar Stufen die Treppe hoch, rief: „Herr Winkler, hallo?“, wartete einen Moment, versuchte es noch einmal. Nichts. „Keiner da. Ich hab gedacht, die Winklers sind vielleicht schon wieder heroben. Dann hätten wir sie fragen können, ob sie den Martin kurz nehmen. Aber die sind auch noch unten beim Feiern.“

Inzwischen war der Himmel überall grau. Der Wind trieb die Wolkenmasse wogend hin und her, Josef spürte den hochgewirbelten Sand vom Vorplatz in den nackten Kniekehlen.
„Wir tun ihn in die Kapelle. Da ist nichts drin, da kann er nichts anstellen. Und wir sind ja schnell wieder da.“
Der direkte Weg zur Kapelle führte über eine Wiese, unter ihr lief der Bach von oben in Richtung Tal. Der Buggy sank an den sumpfigen Stellen ein, Josef und Franz brauchten viel Kraft, um ihn voranzubringen. Martin wachte auf, wollte aussteigen, schrie. An der Kapelle, hoben und schoben sie den Wagen hinein. Martin verstummte für einen Moment.
„Schau, da ist der Jesus, der passt jetzt auf dich auf. Gell, Jesus?“
Josef war sich nicht sicher, ob Jesus auch dafür zuständig war. Aber was sollte er machen?
Franz und Josef schlossen die Tür von außen und legten einen Stein zur Sicherung davor. Martin begann wieder zu schreien, noch lauter als zuvor.
„Schnell, die Direttissima, wir holen den Janker und ab dafür.“
Sie hasteten einen Steilhang hoch, zogen sich an Ästen, Stämmen hinauf, keuchten. Martins Gebrüll verfolgte sie. Kurz bevor sie die Lichtung erreichten, hörten sie ihn immer noch. Franz sagte: „Ich geh runter und beruhige ihn. Wer weiß, wie weit man den hört. Beil dich.“
Josef nickte und stieg weiter. Gleich war er oben.

Auf der Lichtung wehte der Wind Josef viel stärker entgegen als eben noch zwischen den Bäumen. Mit starker Hand strich er über die Lärchen, brachte sie zum Rauschen. Aber er den Janker noch im Gras bei dem hohlen Stamm, die rote Dose leuchtete daneben.
Josef griff den Janker, die Dose, wollte schon gehen. Schnalzte nur einmal mit der Zunge. Zum Abschied. Paul schob sich aus dem Stamm, vorsichtig kam er näher. Josef warf den Janker nochmal hin, nahm sein Taschenmesser, bald war die Dose halb offen. Jetzt war auch Peter da – beide blickten erwartungsvoll zu ihm hoch. Er hockte sich, der Wind kam von vorne, blies ihm die Haare aus der Stirn und kühlte angenehm das heiße Gesicht. Er nahm ein wenig von dem Futter auf zwei Finger und hielt sie Paul hin. Der zögerte, kam näher, reckte den Hals, war nah genug und leckte die Finger gierig ab. Dann zwei Finger für Peter, auch er überwand seine Scheu. Das Futter musste ein wahrer Leckerbissen sein. Josef bog den Deckel weiter auf, um besser an den Inhalt zu gelangen, da bekam er einen Tritt in den Rücken und stürzte samt Dose in Richtung Stamm. Zwei starke Hände fuhren auf die Füchse zu, packten sie an den Hälsen, drückten zu und rissen die Tiere nach oben.
„Deshalb ist die Lady so dünn geworden, du verdammter Saukerl. Päppelt damit die Hühnerdiebe.“
Josef bekam noch einen Tritt und noch einen, bevor sein Vater von ihm abließ.
„Steh auf und bring mir meinen Hut.“
Josef konnte kaum atmen, sein Rücken war ein einziger Schmerz. Obwohl er es nicht wollte, liefen ihm die Tränen, er zitterte. Vorsichtig drehte er sich um. Sein Vater stand über ihm, die zappelnden Füchse in den Händen, der Schützenhauptmannshut lag ein paar Schritte weiter im Gras.
„Hör auf, du bringst sie ja um.“
„Hol den Hut und nimm die Dose.“
Schreiend warf sich Josef gegen die Beine des Vaters, um ihn zu Fall zu bringen. Der Vater wankte kaum und gab Josef einen Tritt in den Bauch. Wimmernd sank er zusammen.
„Verdammt, steh auf, wir gehen.“
Auf allen vieren kroch Josef zu dem Hut, suchte die Dose, die immer noch Futter enthielt, und stand auf. Schluchzen schüttelte ihn, mit unsicheren Schritten ging er voraus, den Vater im Rücken. Sie nahmen den direkten Weg zum Hof, Peter und Paul zappelten und wanden sich in den Händen des Vaters. Die ersten dicken Tropfen fielen, in der Ferne grollte ein Donner.
*
Auf dem Hof war Lady war wie wild mit den Füchsen und sprang hoch, um sie zu schnappen. Der Vater machte sich einen Spaß daraus, sie ihr, kurz bevor sie zubeißen konnte, vor der Schnauze wegzuziehen. Sie bellte hysterisch, Josef schrie und wimmerte abwechselnd, versuchte den springenden, sich drehenden, immer wütenderen Hund abzudrängen. Der Vater lachte. Dann sperrte er Lady in die Küche. Ein weiterer Donner, schon näher.
In der Truhe in der Diele bewahrte die Mutter die Bettwäsche für die Gästeapartments auf. Der Vater hieß Josef die Dose auf den Boden stellen, den Deckel öffnen. Sanfter Duft stieg ihm in die Nase. Die Deckenbezüge waren aus fester Baumwolle mit Reißverschluss. Josef musste einen herausnehmen. Er schrie gellend, als er verstand, was der Vater damit vorhatte.
„Hör auf zu flennen, die Mamma ist auch sauer auf dich. Der Martin wär vor Schreien fast erstickt. Und dem Franz habe ich auch ein paar gescheuert, dann hat er mir gesagt, wo du bist.“
Während er sprach, ließ er Peter und Paul in den geöffneten Bezug fallen, sie schlugen hart auf den Boden. Er schloss den Reißverschluss und verknotete die Ecken. Josef ging wieder auf den Vater los, aber der wehrte ihn mit nur einem Arm problemlos ab.
„Ist doch ein ordentliches Päckchen. Die Steine holen wir später.“
Er warf das Bündel in die Stube, schob Josef in die Küche und drehte den Schlüssel im Schloss. Dort musste er Lady den Rest des Futters aus der Dose geben und die Dose ordentlich auskratzen.
„Pappa, Pappa, bitte, bring sie nicht um. Ich bin nie wieder frech, bitte, ausnahmsweise, lass sie leben. Ich reparier den Stall, bitte.“
Josef schrie und trommelte gegen die verschlossene Küchentür. Er war groß für sein Alter und kräftig, doch die Tür zitterte nur ein wenig im Rahmen. Josef ließ sich auf den Boden fallen. Er kam hier nicht raus.
Der Bucherer-Hof stammte aus dem Mittelalter, er war unter Denkmalschutzauflagen renoviert worden, die Fenster in der Küche lagen tief in der Mauer und waren seit jeher vergittert. Es war dunkel in der Küche, Josef hörte wieder einen Donner, diesmal ganz nahe.
Dann vor der Tür die Stimmen der Eltern., Sofort war er auf den Beinen, schrie.
„Mamma, Mamma, sag dem Pappa, dass er sie leben lassen soll. Ich tu alles, was du willst, ich bleib hier, ich geh nicht ins Internat, ich helf euch bei allem, bitte.“
Er lauschte und hörte die Mutter: „Bring sie dem Jäger, sie gehören ihm sowieso.“
„Wo sind die Füchse?“ Die Stimme von Martin.
„Es sind seine, er hat sie gefüttert, jetzt soll er sich auch kümmern.“
Ganz ruhig kam das vom Vater. Nicht feucht, nicht laut. Das war am gefährlichsten. Eine graue Welle flutete von Josefs Magen in Richtung Kopf. Ein Donner krachte, dann prasselte der Regen.
*
Die Hand des Vaters in seinem Nacken war warm und riesig. Sie stieß ihn die Treppe hinab ins Unterdorf. Die Holzbohlen waren rutschig, der Regen trommelte mit winzigen Schlägeln auf ihn, den Vater und die Fuchsjungen im Sack. Den schwang der Vater wie einen Einkaufsbeutel an seiner Seite. Josef drehte sich dauernd danach um. Im Licht der Blitze, die über St. Luz den Himmel zackten, sah er Ausbeulungen in dem Sack, die sich bewegten. Die Füchse lebten noch. Er stolperte.
„Schau geradeaus. Du bist heute schon einmal hier runtergefallen. Oder war das auch gelogen?“
„Pappa, bitte.“
„Pappa, bitte“, höhnte der Vater.

Sie waren auf der Brücke. Von dem starken Regen gespeist, hatten sich die Wasser der Ache in einen dunklen, fauchenden Drachen verwandelt. Kleine Schaumkronen tanzten auf seiner wild bewegten Haut, er war hungrig. „Wir brauchen keine Steine“, sagte der Vater. „Der Sack ist schon so nass, der ist schwer.“
Weil ein Donner krachte, verstand Josef nicht genau, was er sagte. Er ahnte es. Der Vater holte Schwung. Ich spring hinterher. Mit einem Satz war Josef auf dem Geländer. Es war stabil und fest. Ich halte sie über Wasser und lass mich treiben. Ich hau ab mit ihnen, ich …
Der Sack flog in hohem Bogen, Josef fühlte sich am Kragen gepackt und festgehalten, der Sack schlug auf, zappelte, dann trieb ihn das wogende Wasser ins Dunkel. Josef stand schreiend und um sich schlagend im Griff des Vaters auf der Brücke.
*
„Ich hasse ihn, ich hasse ihn bis aufs Blut.“
Josef stand in der Kapelle und schrie es laut hinaus, gegen die Wände, zu Jesus hin.
Warum hatte Jesus ihm nicht geholfen? Verzweiflung schüttelte ihn, er schluchzte auf. Irgendwann hatte der Vater seinen Griff gelockert und ihn fallen lassen. Einen Moment lag Josef auf den nassen Schwellen der Brücke, dann rappelte er sich auf, rannte los. Den Bach entlang, durchs Dorf. Er kam nicht ans Wasser, es war hier eingefasst von einer schrägen Steinmauer. Aber weiter vorne, wenn die Ache durch die Wiesen floss, bevor sie mit Getöse neben der Serpentinenstraße in die Tiefe fiel, da musste er die Füchse erwischen. Schneller, schneller, er bekam keine Luft, keuchte, fiel, zog sich wieder hoch. Aber nichts. Kein Sack mit Füchsen. Nur schwarze Wellen, Schaum, Regen, Dunkelheit. Er schaffte es bis zum Wasserfall, dann musste er aufgeben.
Warum hatte Jesus nicht geholfen? Er hätte sie doch aufhalten können, mit einem Ast oder irgendwas.
Josef fiel nieder, lag auf den Fliesen, die zerbrochenen Kanten drückten in seine Oberschenkel. Er spürte nichts. Er konnte nicht mehr weinen. Auf einem Forstweg hatte er einmal die überfahrene Leiche eines Salamanders gefunden, schon angetrocknet. Die schwarz-gelbe Zeichnung war nur noch zu erahnen. Der Kopf aber war erhalten, geschrumpft wie bei einer Mumie. So fühlte er sich, leer, wie gestorben.

Irgendwann wälzte er sich auf den Rücken. Dabei spürte er die Fläschchen in den Hosentaschen. Er robbte an die Wand, lehnte sich mit dem Rücken daran, schraubte das erste auf. Es roch süßlich.
Er hob das Fläschchen gegen den blassen Jesus, Prost Verräter, dachte er, zum Sprechen hatte er keine Kraft mehr, trank auf ex. Die Wangen zogen sich von der beißenden Süße zusammen und als er schluckte, füllte Speichel seinen Mund. Im Bauch spürte er wie am Nachmittag das nasse Feuer, aber es war runder, schwerer. Ah, das tat gut. Das zweite Fläschchen biss weniger, doch wieder schoss ihm der Speichel. Musste er jetzt speiben? Er beugte sich vor, aber nein, das gute Warme blieb im Magen, breitete sich von dort aus. Es verhüllte den Riss in seiner Seele, schon war er ein bisschen weniger hilflos, fühlte sich mehr ganz. Für ein paar Minuten saß er noch so. Dann rutschte er die Wand hinunter, dem Schlaf und dem Vergessen entgegen.

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