Kurzgeschichten

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19 Millionen. Das war mehr als erhofft. Nächtlicher Neuschnee bauschte sich auf der Terrasse, die zu Juls‘ Suite gehörte. Mit einem Freudenschrei sprang er hinein, dass es stob.
Dachte an seinen Vater, wie er damals gewesen war, vor dem Krieg. Sicher wäre er stolz auf ihn. 19 Millionen für den Frieden.
Juls wischte den dünnen Schnee vom Terrassengeländer, formte ihn zu einem zarten Schneeball. Der Tag glänzte, die Sonne ließ die weiche Winterlandschaft rund um das Nobel-Retreat erstrahlen. Juls warf den Ball auf die Piste direkt neben dem Haus und sah überrascht, dass dort Snowbiker ins Tal rasten. Gab es hier in diesem Berggebiet keine Ausgangssperre? Da kamen auch schon die ersten mit orangefarbenen Overalls, die Meuter mit umgeschnallten Waffen. Fünf, sechs, sieben, zählte Juls. Vorschriftsmäßig, mehr waren nach den Reallife-Regeln nicht erlaubt. Schnell waren sie vorbei, aus seinem Blickfeld, die Beute hatte er nicht gesehen. Diese musste kein Orange tragen und wer weiß, ob sie überhaupt mit dem Snowbike unterwegs war. Der Beute war alles erlaubt.

Das CTE, sein Connecting Tool im Ohr, zirpte und projizierte das Gesicht von Christian, seinem Geschäftsführer vor ihn, durchsichtig von dem vielen Licht.
„19 Millionen Zuschauer auf allen Kanälen, auf den öffentlichen waren es vier. Insgesamt sind seit gestern Abend in den DACH-Ländern fast 15.000 angemeldete Teams unterwegs, das Dunkelfeld noch nicht mitgerechnet.“

Juls hatte volles Verständnis, dass Christian jede einzelne Zahl förmlich zelebrierte. Sie waren ja auch umwerfend. Er ging zurück ins Zimmer, der Kellner hatte das Frühstück vor der Mediawand aufgebaut. Juls nahm sich ein Insektencroissant mit Mandelgeschmack, schaltete die Wand mit einer Geste an, loggte sich mit Stimmbefehl auf einen geschützten Kanal und sah nun selbst die Zahlen in Form von blubbernden Balken und Kreisen.
„Ich sehe die Toten nirgends“, sagte er und seine Stimme stieg hoffnungsfroh: „Gab es keine?“
Christian schwieg.
„Was?“, fragte Juls.
Christian räusperte sich: „83,5 Tote.“
„Komma fünf? Willst du mich verarschen? Dafür habe ich keine Zeit!“
Ungeduldig suchte er selbst nach den Zahlen, zoomte die Bubbles heran und wieder weg. Informieren, entscheiden, handeln – das hatte sein Vater immer gesagt und so hielt es auch Juls. Er wurde ungeduldig, wenn er warten musste, schnelle Informationen, schnelle Entschlossenheit waren key.

„Ich gehe, ich muss“, waren die Worte seines Vaters gewesen, damals im ersten Kriegsjahr, „ich habe gelesen, dass sie Ingenieure brauchen.“ Die Angreifer hatten systematisch die Infrastruktur eines benachbarten Landes zerstört, der Vater ging in eine der großen Städte zum Wiederaufbau.
Juls war 15 damals gewesen, Gamer, Nerd, belesen, und fragte sich verzweifelt, warum Menschen einander so etwas antaten. Wie ließ sich dieses dumme Töten beenden? Gab es nicht die „Goldene Regel“, dieses Sprichwörtliche ‚Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.‘? Eine Art Naturrecht, das jeder verstand? Eine vage Idee keimte in ihm. Aber der Krieg war schnell, infizierte weitere Länder, tötete. Viele. 2030, nach einem Friedensschluss aus Ermüdung, war Europa aus den Fugen, in den verletzten Städten wurde um den kleinsten Vorteil gekämpft, herrschte das Recht des Stärkeren. Juls holte bald nach Kriegsende die Überreste des Vaters nach Hause und gründete ebenso bitter wie entschlossen ein Start-up. Die Zeit war reif für seine Idee, viele Regierungen suchten nach Wegen, ihr Land zu befrieden. Es konnte kein wirtschaftliches Wachstum geben, solange die Menschen sich wie reißende Wölfe verhielten.
Mit staatlichen Geldern entwickelte er die Gaming-Plattform „WAR ZERO“: Eine menschliche Meute in orangen Overalls jagte die menschliche Beute. Kein weiteres Ballerspiel, jagen, stellen töten. Nein – das Revolutionäre war: Die Beute durfte nicht getötet werden. Wenn es doch passierte, musste der Töter von einem per Zufall ausgewählten Meuter virtuell erschossen werden. Was du nicht willst, das man dir tu … So musste es doch der Dümmste begreifen, dachte Juls und beauftragte Psychologen mit aufwendigen Untersuchungen. Die ersten drei Monate wurden ausgewählte Meuten-Spieler vorher und nachher auf ihr Aggressionspotenzial untersucht. Nach dem Spiel war es bei allen nachweislich gesunken. Mit oder ohne Tote. Nur bei der Beute war es gestiegen. Aber das hatte keiner anders erwartet und das war tolerierbarer Überlebenswille. Auch diese Untersuchungen finanzierte der Staat und er förderte die Verbreitung der Plattform. Weniger Aggression hieß Stabilität und endlich mehr Wachstum.
Die Menschen spielten „WAR ZERO “ überall und andauernd, auf ihren CTEs zu Hause. In den Unternehmen gab es eigene „WAR ZERO “-Pausen, in denen die Belegschaft gemeinsam vor den Monitoren saß. Das gewünschte Ergebnis trat ein: Morde, Raubüberfälle, sogar häusliche Gewalt nahmen ab.
Alle Medien berichteten und alle Fernsehsender strahlten „WAR ZERO “ regelmäßig aus. Es gab hohe Preise für Beuter und Meuter.
Auch die öffentlichen Sender wurden von den Gerichten gezwungen, das Spiel regelmäßig interaktiv zu übertragen. Es gehöre zu ihrem Versorgungauftrag, befanden die Richter.
Auch die Politiker, die Abgeordneten im sogenannten House of Words und die Regierung im House of Deeds nahmen sich regelmäßige Freistunden, um „War Zero“ zu spielen. Es gab keine Verordnung oder gar Zwang dazu – aber wer weiterkommen wollte, sollte besser regelmäßige Teilnahme vorweisen können. Juls wurde als Unternehmer gefeiert, bekam Preise, hielt Reden. Manchmal glaubte er all das selbst kaum, sollte es wirklich so einfach sein, Frieden zu stiften?
Nach rund drei Jahren folgte die Ernüchterung. Die beruhigende Wirkung von „WAR ZERO“ schlug ins Gegenteil um: Es bildeten sich Gaming Clubs, die es darauf anlegten, möglichst oft virtuell als Meuter erschossen zu werden – sie töteten die Beute vorsätzlich. Auch in die Straßen, in die Gesellschaft kehrte die Gewalt zurück. Der Mensch war also wirklich böse? Juls wollte das nicht glauben. Durfte es auch nicht glauben, wie er sich in schlaflosen Nächten selbst eingestand – was bliebe von seinem unternehmerischen Erfolg? Ganz zu schweigen von den Politikern, die mit Spott und Häme überschüttet wurden. Was für ein idiotisches Unternehmen hatten sie da gefördert.
Juls schlug dem Friedensminister eine drastische Lösung vor: Man musste WAR ZERO“ in die Realität heben. Es zu „WAR ZERO REAL“ machen. Ein Meuter erschoss eine Beute? Zack – dafür musste er selber sterben. Real, ohne Wiederkehr als Avatar. Juls hoffte zutiefst, dass dies abschreckend genug sein würde. Tit for tat. Du tötest mich? Dann wirst du ebenfalls getötet. Nur Verrückte und Selbstmörder wollten sterben, alle anderen wollten doch leben. Oder?
Er jedenfalls wollte es. Für sich, für das Andenken seines Vaters und inzwischen auch für seinen Sohn. Auf der Mediawand erschien, eben von seiner Frau geschickt, ein Foto des Kleinen. Zwei war er jetzt, bald würde er ihn mitnehmen können – zum Skifahren, zum Aquadas-Sliden.
Auch „WAR ZERO REAL“ wurde von der Politik unterstützt, finanziell und in der öffentlichen Diskussion. Behauptungen wie „das Böse wird durch das Böse ersetzt“, Formulierungen wie „menschenverachtend“, oder „zynisch“ verschwanden, Spin-Doktoren ersetzten diese durch „wirksame Härte“ und „unvermeidliche Opfer im Sinne des Friedens.“
Binnen kurzem hatte Juls mit seiner Firma die nötige Infrastruktur bereit gestellt: Anmelde- und Überwachungsplattform, regionale Stützpunkte, in denen die Overalls, alle bestückt mit Sensoren, ausgegeben wurden, die Waffen. Und natürlich Personal, das für die konsequente Umsetzung sorgte – kein Töter sollte seiner Strafe entgehen. Die Beute durfte mit gezielten Schüssen in Arm oder Bein an der Flucht gehindert werden. Wenn man ihrer habhaft wurde. Sie trug ein Chamäleon-Wearable, die Farbe des Overalls verschmolz mit der Umgebung.
„WAR ZERO REAL“ wurde in einem Modellversuch drei Monate in der Schweiz getestet. Beuter fanden sich genug, Meuter auch – Befragungen ergaben, dass es ihnen nicht um das Geld ging, sie reizte das Spiel selbst, das Risiko, die Todesgefahr, „playing on the edge.“ Natürlich gab es Tote, ja, aber deutlich weniger als in der Endphase des virtuellen „WAR ZERO“, im Schnitt sechs pro Tag.
Juls triumphierte. Er war der Wegbereiter einer friedlichen Welt. Er hatte das Böse mit seinen eigenen Mitteln geschlagen. Und auch wenn dieser Gedanke schwer war – der Tod seines Vaters hatte so vielleicht doch einen Sinn gehabt.
Auf der Mediawand gab er die Suche nach der Zahl der Toten auf – er fand nichts. Wahrscheinlich gab es keine und sein zynischer Geschäftsführer Christian wollte ihn wirklich verarschen. Wieso sonst sagte er immer noch nichts?
Eine Minute würde er ihm noch geben. Juls ging auf die Terrasse, blinzelte gegen den Schnee und freute sich, bald nach Hause zu kommen.
Gestern Abend, 20 Uhr, war Startschuss für „WAR ZERO REAL“ gewesen, im gesamten DACH-Gebiet. Bald, dachte Juls, würde er es in allen Ländern der ehemaligen EU vertreiben.
„Also, was ist?“, wiederholte er, „keine Toten, oder?“
Christian räusperte sich: „Doch. Wie ich sagte – zwischen 20 Uhr und 5 Uhr heute Morgen waren es 83,5.“
Juls stapfte zurück in die Suite, trat die Reste des Croissants in den Teppich.
„0,5 ist so schwer verletzt, dass er in den nächsten Stunden sterben wird.“
„Und der Töter?“
„Wird festgehalten, bis der Tod bestätigt ist.“
Juls klinkte sich aus dem Gespräch. Das waren viel zu viele. 100 Tote pro 24 Stunden hatte die Zulassungsbehörde erlaubt, im Jahr also maximal 36.500. Ein verkraftbarer Kollateralschaden aus deren Sicht. Nach Corona und dem Krieg war man höhere Zahlen gewöhnt.
Juls atmete ein paar Mal tief ein und aus, legte den linken Zeigefinger auf das Stirn-Chakra, die rechte Hand auf das Herz. Wurde ruhiger. Er würde eine Lösung finden, er hatte immer eine gefunden.
Zärtlich sah er seinen Sohn auf der Mediawand an. Wenn er den Kleinen im Arm hielt, hatte er sicher eine Idee, wie er die Zahl der Toten senken konnte. Andere Waffen? Andere Munition?
„Du wirst keinen Krieg erleben müssen, das werde ich verhindern. Ich verspreche es dir.“ Er hob die Hand zum Schwur und nickte ihm zu. Er beschloss, schon heute Abend nach Hause zu fahren. Seine Auszeit im Schnee war beendet.
Den Nachmittag aber verbrachte er noch in der Sauna, ließ sich massieren, immer das CTE im Ohr, einen Anruf von Christian fürchtend, der das Ende verkündete, die 100. Aber es kam kein Anruf. Juls entspannte sich und begann darüber nachzudenken, warum es so viele Tote in der Nacht gegeben hatte. Eine Erklärung konnte sein, dass die Ausgangssperre – so wie hier in den Bergen – nicht ernst genommen wurde. Im Vorfeld hatte man ganz richtig erkannt: Das anpassungsfähige Wearable schützte die Beute, aber es setzte sie auch neuen Gefahren aus. Auf einer Straße wurden Beuter zu grauen Schatten, kaum zu sehen für einen rasenden Transporter. In der Stadt verschmolzen sie mit den Metallschilden der Gebäude, dem Schwarz der unterirdischen Bahnhöfe.
Waren die Zahlen der Toten darauf zurückzuführen? Denn wer die Ausgangssperre verletzte und eine Beute zum Beispiel durch einen Unfall tötete, wurde zum Töter – mit den entsprechenden Konsequenzen. Tit for tat, wer sich nicht an die Regeln hielt, hatte verspielt. Es gab einige wenige Ausnahmen, systemrelevante Berufsträger, die sich auch während des Spiels draußen bewegen durften. Juls gehörte nicht dazu. Trotz aller Bemühungen, er hatte das begehrte Ticket nicht erhalten.
Juls ging unter die Dusche. Schüttelte wie ein Hund das Wasser aus seinen dicken, blonden Haaren. Die Ausgangssperre, das war eine Möglichkeit. Aber es gab noch viele andere – zum Beispiel, dass die Meuter nicht sorgfältig genug überprüft worden waren und sich der eine oder andere Suizidale darunter gemischt hatte. Es hatte keinen Sinn, er musste warten, bis die Analysen vorlagen.
Juls verließ das Spa, an der Bar trank er einen mineralstoffreichen Algencocktail, sah auf die Uhr. Wenn er bald losfuhr, konnte er zu Hause sein, bevor seine Frau zu Bett ging. Sie würde sich freuen, ihn so überraschend zu sehen. Schnell ging er nach oben, packte, sah sich noch einmal um, klickte noch einmal durch die Zahlen. Inzwischen waren es 98 Tote.

Das Fünf-Sterne-Hotel lag in einer verkehrsfreien Zone. Doch privilegierte Gäste wie Juls durften bei Abreise nach 19 Uhr mit ihren Aquadas oder anderen Amphibienfahrzeugen die Piste hinuntercruisen. Trotz der schlechten Zahlen und der offenen Fragen – darauf freute er sich. Wo sonst konnte man sich noch richtig in einer teuren Kunstschneelandschaft austoben?
Am Nachmittag hatte sich der Himmel zugezogen und ein beharrlicher Nieselregen überzog die Piste mit einer Art Schmierseife. Mit jeder weiteren Stunde würde es noch rutschiger werden.
Juls machte sich keine Sorgen, die Piste war nur direkt am Hotel steil und er ein guter Fahrer. Auch die Ausgangssperre fürchtete er nicht, er hatte Augen wie ein Luchs und war auf der Hut. Egal wie die Beute sich anpasste, er würde sie nicht übersehen. Außerdem – und der Gedanke ließ ihn bitter lachen – 98 Tote. Das Spiel könnte sehr bald zu Ende sein.
Schon im Moment, als der Portier die Tür zuwarf und ihm gute Fahrt wünschte, geriet sein Aquadas ins Rutschen. Juls bremste nicht, lenkte nur quer zum Hang, zog eine große Kurve … Perfekt. Die nächste.
Sein CTE zirpte. Juls nahm das Gespräch an.
„99“, sagte Christian, „noch einer und wir müssen abbrechen“.
„Quatsch, es ist gleich acht.“
„Es ist 19.22“, erwiderte Christian.
„Ich …“ – Juls unterbrach sich. Sein Gefährt schlitterte über den Rand der Piste auf eine der überdimensionierten Schneekanonen zu. Juls riss den Lenker herum, das Heck schwänzelte unruhig, es knallte und im Rückspiegel sah Juls, wie eine Gestalt im weißen Overall in die Luft geschleudert wurde. Der Kopf schlug hart auf den Rand der Kanone, der Körper rutschte ab und glitt aus dem rückwärtigen Scheinwerferkegel von Juls‘ Fahrzeug.
Kurz danach schrillte der hochfrequente Ton, der den Tod einer Beute signalisierte.
„100“, sagte Christian.
Juls, der Töter, stoppte das Aquadas, es rutschte führungslos den Hang hinunter. Er saß erstarrt und wartete. Bald würden sie da sein.

Martina Lenz, 2023

Veröffentlicht in Anthologie und Performance *topie, GEH8-Verlag, Dresden 2023