Kurzgeschichten

Rußwurm

Wie es denn mit dem Rußwurm sei, hat mich der Sommelier noch gefragt. Mit so Ekel im Gesicht. Ja so, habe ich gesagt, und da steht er schon vor meiner Tür, der Rußwurm. Wie letzthin am freien Tag. Haben wir jetzt immer zusammen frei?
Das Wort musste ich nachschlagen, Ruozwurm, mhd, Insekt, lat. rubiter, eine Schabe, auch Rußkäfer genannt. Oft Spott für unsaubere Menschen. Später ein Ausdruck für Köhler.
Unsauber ist er nicht, aber ich lasse ihn nicht herein – er schaut mir zu neugierig.
„Du kommen“, sagt er.
„Kommst du mit mir?“, korrigiere ich.
Zählen kann er auf Deutsch, habe ich ihm letztens beigebracht. Und „Nix gut“, und „Alles gut.“ Wenn ich fünf Finger hebe, sagt er:
„Fünf Sterne. Superiorrrr.“ Dabei strahlt er, mit weißen Zähnen, als würde das ganze verdammte Hotel ihm gehören.
Ich schließe zweimal um, wir gehen.
Er springt vor mir die steilen Serpentinen zur Kapelle hoch, seine Fußsohlen blitzen in den Flip-Flops. Ich bin aber auch nicht langsam, Gebirge kenne ich.
Oben zündet er wie beim letzten Mal eine Kerze an, kniet und ich höre ihn murmeln.
Ich mache mir nichts aus Kirchen, alles Manipulation. Aber hier, das ist interessant, an einer Seitenwand hängt eine Todesanzeige:

Für den Hufschmied von hier, den Wohltäter dieser Kapelle,
selig entschlafen im Herrn am 7.April 1887.

Genauso. Da kümmert sich einer um die Kapelle und was hat er davon?
„Sieh es dir an“, sage ich zum Rußwurm, „das ist die einzige Gewissheit – wir alle sterben.“
„Sterben?“ fragt er.
„Ja, so.“ Ich fahre mir mit der Hand über die Kehle und mein Kopf sinkt zur Seite.
Er macht eine Bewegung, als wollte er mich retten.
„Nix gut“, sagt er, „leben, immer leben.“

Draußen gibt er mir sein Handy, ein teures i-phone. Wo hat er das her?
„Mache life-sign für brother.“ Englisch kann er passabel. Ich kann deutsch und russisch.
„Lebenszeichen“, sage ich.
Ich fotografiere ihn auf dem kleinen Friedhof vor der Kapelle, er reißt die Arme hoch wie ein Sieger. So sehe ich die Narben auf seinen Armen noch besser, im Gesicht hat er auch eine, eine kleine, wulstige.
Wir gehen den Forstweg in Richtung der Almen. An einer Kehre bleiben wir stehen, unter uns liegt das Hotel-
„Fünf Sterne, superior“, sagt er und grinst.

Ich schaue auf die Terrasse. Dort hat mich gestern ein Ehepaar gefragt, ob es hier im Winter Lawinen gibt.
„Herr Oberkellner“, hat der Mann gesagt. Immer halten sie mich für den Oberkellner, dabei stehe ich unter dem Sommelier. Der Sommelier ist ein Bio-Österreicher, ich bin aus den neuen Ländern, die beiden waren Wessis.
„Welchen Winter? Vor zwei Jahren hatten wir kein Flöckchen und dieses Jahr kam der Schnee erst im Januar.“
„Ja. Der Klimawandel“, sagt die Frau und nickt ernst. Er auch.
„Ach was, alles Manipulation“, sage ich, überzeugt wie ein Einheimischer, „das hat’s doch schon immer gegeben.“
Ihre Gesichter hellen sich auf, sie nicken wieder.
Und ich, in ihre 450 Euro pro Nacht/ pro Person Gesichter:
„Unsere einzige Gewissheit ist, dass wir sterben.“
Jetzt stehen sie da wie zwei Verurteilte, in dieser Wahnsinnssonne vor den Wahnsinnsbergen. Ich wünsche ihnen noch einen guten Tag, ich habe zu tun.

Wir gehen weiter, er bleibt an jeder Kehre stehen, die Aussicht wird immer breiter.
„Schönes Land“, sagt er, „schönes Land.“
Ich mache Tempo, der Schotter knirscht, „schönes Land wird vor die Wand fahren“, ich sag’s vor mich hin, aber er hört es, ich sehe seinen Schatten mich überholen, dann ist er auf gleicher Höhe.
„Wand. Wall?“
Ich habe keine Lust, er versteht’s ja ohnehin nicht. Ich aber habe es schon mal erlebt, wie es knallt, wenn die einen immer knapsen müssen und die anderen in Hülle und Fülle schwelgen. Die Parteibonzen auf ihren Landsitzen, in Wandlitz mit Westfernsehen und altem Whisky. Habe ich später alles recherchiert, war so.
„What about Wand?“
Wahrscheinlich habe ich mich wegen der Narben überhaupt auf ihn eingelassen. Wenn ich sowas sehe, tut es mir selber weh. Echt, körperlich. Ich hab’s mal bei einem verprügelten Hund gesehen, den habe ich gerettet.

„Willst du was lernen?“, frag ich ihn.
Er verdreht die Augen. „Was mit Wand.“
„Sag mal: Nur ein Schwarzer wäscht das Schwarzgeschirr in der Hotelküche richtig sauber.“
Er will wissen, was es bedeutet.
In Google-Translate German-English tippe ich: „Es ist wichtig, die verkrusteten, schwarzen Töpfe und Pfannen in der Hotelküche sehr sauber zu waschen.“ Er liest, schaut böse.
„Du nicht sagen das.“
„Kannst doch kein Englisch? Pech. Yoruba hat Google nicht.“
„Nix Yoruba, du sagen etwas mit diese…“ Er zupft an der Haut auf dem Handrücken.
Ab jetzt geht er vor mir, der Abstand wird größer.
Plötzlich schreit er, winkt, ich soll kommen. Schnell. Er lacht und zeigt mir unten am Abhang den „Berghof Wilder Kaiser“. Aufgelassen, verrammelt, Corona-Opfer.
Aber der Pool vor dem Haus.
Bis zum Rand gefüllt mit Wasser und johlenden Kindern. Ein Hund ist auch dabei, er bellt wie verrückt.
Noch ein Fresser mehr, hat mein Vater damals gesagt, weg damit.
Der Rußwurm rennt los, steil durch den Wald, schlängelt sich zwischen den Bäumen als wär‘s ein Tanz. Der baumlange Kerl.
Bei uns waren die Bäume hin wegen dem Uran für die Russen, aber wir sind auch die Hänge runter, ich springe und rutsche und lache…
Als ich aufwache, sehe ich sein Gesicht über mir und alles tut weh.
Hat er mir was über den Kopf gezogen? Er hält meine Hände in einer seiner Riesenpranken, hebt die andere:
„Du jetzt wollen sterben, gewiss.“
Ich schließe die Augen, warte.
Dann spüre ich seine Arme unter mir, er trägt mich und mein kaputter Kopf fällt auf seine Schulter. Wie bei einem Kind.

Martina Lenz, 2023

Veröffentlicht nach Wettbewerb in Sammelband „Zeilenlauf“, Baden bei Wien 2023