Kurzgeschichten

Zwei Gärten

Ludger stand am Fenster und sah hinüber in seinen Garten.
„Es ist nicht dein Garten“, hörte er die Stimme seiner Mutter sagen.
„Doch“ erwiderte er und war sich bewusst, wie absurd dieses Gespräch war.
Seine Mutter war vor zwei Jahren gestorben. Aber sie hatte zu lange frierend am immer beheizten Kamin in dem großen Salon hinter ihm gesessen und kommentiert, was er tat. Er war daran gewöhnt.
„Doch, meiner“, sagte er noch einmal und hob den Feldstecher an die Augen. Gestern hatten sie drüben das Gerüst vom Haus abgebaut und jetzt, so früh am Samstagmorgen, führte der Architekt einen Mann durch den Nachbargarten. Ludger sah das feine Gesicht des Mannes als stünde er vor ihm und stellte zufrieden fest, wie es einen zunehmend entzückten Ausdruck annahm. Still gingen die beiden an den bogenförmigen Grasinseln entlang, auf denen dicht an dicht das hohe Reitergras stand, sie durchschritten die Bodenwelle, in der Kamelien im Schutz von Riesenfarnen blühten. Erst als sie zu den frisch ausgehobenen Pflanzlöchern in der Nähe des Teiches kamen, sprachen die beiden wieder. Ludger sah, wie der Architekt die Schultern hob. Es wirkte wie: „Keine Ahnung, ich weiß von nichts.“ Der Mann mit dem feinen Gesicht, er musste so um die fünfzig sein, schaute ernst, sah suchend um sich.
Ludger trat etwas vom Fenster im ersten Stock der Stadtvilla zurück. Aber er konnte nicht aufhören den anderen anzusehen. Er fand ihn schön. Tief in ihm klang etwas, ein schwingender Ton, wie der Schlag einer weit entfernten Glocke.
Jahrelang hatte die Nachbarsvilla, die genau so aussah wie seine, leer gestanden. Die Erben konnten sich, so hieß es, nicht einigen. Seit mehreren Wochen aber waren dort nun Handwerker zugange, am Baustellenzaun hing das Schild eines Architekturbüros mit dem Foto des Inhabers. Eines Abends hatte der Mann vom Foto an Ludgers Tür geklingelt. Wahrscheinlich wollte er sich vorstellen und dies oder das über die Nachbarschaft herausfinden. Ludger hatte nicht geöffnet.
Er hob wieder den Feldstecher. Der Architekt war verschwunden, wahrscheinlich ins Haus gegangen. Der Mann hingegen schlenderte scheinbar absichtslos durch den Garten, näherte sich aber Schritt für Schritt der dicht bewachsenen Grundstücksgrenze. Ludgers Körper spannte sich, der Mann hatte sein Blickfeld verlassen, aber er wusste: Gleich würde der Fremde das Tor in der Hecke entdecken. Ludger hatte es freigeschnitten, damit er mit seiner Schubkarre und den Geräten durchkam. Zur Tarnung hatte er Rispenhortensien, Jasmin und goldene Wolfsmilch davor gepflanzt – die Sträucher trugen bereits ihr erstes, zartes Grün. Doch boten sie noch nicht genügend Sichtschutz und Ludger konnte sich das Erstaunen in den dunklen Augen des anderen vorstellen: Ludgers Garten war identisch mit dem Nachbarsgarten – wie ein aufgeklappter Spiegel. Eine Ausnahme gab es: auf Ludgers Seite waren die Pflanzlöcher am Teich schon gefüllt, eine Wolke wilder Veilchen wies auf die Farbe der neuen Stauden hin: Blauraute und hochwachsende Bartblumen „Gran Bleu“. Die exakt gleiche Anzahl davon hatte Ludger noch einmal in seinem Gartenhäuschen stehen. Für die andere Seite. Am Abend würde Ludger sie einpflanzen. Aber wie würde es dann weitergehen?
Mechanisch erledigte er seine Samstagsroutinen, einkaufen, Wäsche, vorkochen für die Woche und dachte nach. Vielleicht konnte man sich einigen. Dass er den ganzen Garten weiter gestaltete und sich, wie es seine Gewohnheit war, abends und morgens darin aufhielt? Ganz hoffnungslos war das nicht, Ludger konnte sich mit den meisten Menschen einigen.
Sein Chef, IT-Verantwortlicher für die gesamte Stadtverwaltung, Ludger war sein Stellvertreter, schickte immer ihn zu den schwierigen Fällen. Denen, die neue Software boykottierten und bei den Transformations-Projekten ihre Arbeitspakete nicht ablieferten.
„Ich verstehe nicht, wie Sie das machen“, sagte er, wenn der Prozess nach Ludgers Besuch bei den störrischen Mitarbeitern weiterging.
Ludger hob die Schultern. Er behandelte die Menschen einfach wie seine Pflanzen. Sorgte, soweit es ihm möglich war, dafür, dass ihr Umfeld stimmte. Gab ihnen genau bemessene Portionen Wissen – wie Dünger. Und ging regelmäßig vorbei, um sie mit seinem zurückhaltenden Lächeln und ermunterndem Augenzwinkern zu versorgen. So wie er Blumen und Kräuter und Stauden in seinen Gärten goss. Darüber hinaus ließ er sich auch von schlechter Laune und Streit nicht abschrecken.
„Das“, so dachte er manchmal, „habe ich bei meiner Mutter gelernt“, und schickte ihr ein Quentchen Dankbarkeit.
Einmal hatte sein Chef ihn gefragt, wie er denn als System Administrator mit einer solchen Ruhe vorgehen könne. Das sei ihm in der IT noch nie begegnet.
„Wir sind doch, wenn wir ehrlich sind, alle hibbelige Nerds“, hatte er gesagt und dabei verlegen gelacht.
Luger hatte ernsthaft überlegt: „Ich glaube, es ist, weil ich in meiner Freizeit an einer Art Paradies baue.“
Spätestens da hatte er seinen Ruf als komischer Heiliger weg. Es störte ihn nicht.
Nur Francine, seine Freundin aus der Stadtkasse, nahm ihn ernst. Einmal hatte sie versucht ihn zu verführen. Sie landeten nach Kaffee und Kuchen auf ihrer Couch, lagen nebeneinander. Sie, das vitale, rothaarige Pummelchen, er der schlanke, immer in grünbraun gekleidete Blondschopf. Ihre tastenden Finger hatten ihn nur gekitzelt, sie lachten und dann geschah lange nichts. Bis Francine sich aufrichtete, auf den Ellbogen stützte, sie beide in den Blick nahm und sagte:
„Ich glaube, wir passen nicht zusammen. Aber vielleicht können wir Freunde sein?“
Danach hatte er ihr die Gärten gezeigt. Es war Sommer, Francine ging durch wogende Blüten und Gräser, ein bienenklingender, vielfarbiger Teppich mit immer wieder überraschenden Mustern.
„Das ist so wunderbar“, sagte sie, „so…so kunstvoll und dabei so natürlich wie von einem Gott mit sanfter Hand geschaffen.“
Ludger kannte Francines Hang zum Pathos, das Kompliment hatte ihn trotzdem gefreut.

Und jetzt sollte ein anderer Gott sich in seinem Garten ergehen, dachte Ludger bei seiner samstäglichen, langen Joggingrunde und beschleunigte unwillkürlich. Ihm fiel nichts ein, was er dagegen tun könnte. Wenn der andere einzog und das Tor schloss?
Da war er schon. Ludger war bei seinem Haus angelangt, vor der Villa drüben stand ein Umzugswagen, der Mann mit den dunklen Augen dirigierte die Möbelpacker. Ludger erhob vage den Arm zum Gruß, zurück kam ein freundliches Nicken. Es machte ihn verlegen und glücklich gleichzeitig, Ludgers Herz tat plötzlich einen überflüssigen Schlag.
Warum schüchterte der neue Nachbar ihn ein, überlegte er, und wusch seine Haare unter der Dusche. Wieso fühlte er sich mit seinen knapp dreißig ihm gegenüber wie ein 14jähriger? Er hatte doch nichts Verbotenes getan. Im Gegenteil. Wenn er sich nicht gekümmert hätte, würde der Nachbar auf kahlen Boden und in ein glitschiges Teichloch schauen. Etwas Shampoo geriet in sein Auge, es brannte und er ließ Wasser über sein Gesicht laufen. Das unangenehme Gefühl, dass seine Gartenarbeit missfallen könnte, ließ sich nicht abwaschen.
Abends dauerte es, bis drüben das Licht ausging. Es war nach Mitternacht, als Ludger seine Karre mit den vorgewässerten Pflanzen und einem Sack Erde durch das Tor schob. Der Himmel war leicht bewölkt, aber die paar Sterne und der hin und wieder auftauchende Mond gaben ihm genug Licht. Beim letzten Pflanzloch schüttelte er die Erde direkt aus dem Plastik, es knatterte ein wenig und er hielt inne. Nein, nichts. Er klopfte die Erde fest und merkte erst dabei, dass er seine kleine Schaufel verloren haben musste. Sie hing nicht mehr an seiner Werkzeugschürze. Ludger ging auf die Knie und leuchtete vorsichtig mit dem Display des Handy.
„Darf ich helfen?“ fragte jemand von der anderen Seite des Teiches. Eine Taschenlampe flammte auf, Ludger sagte wie selbstverständlich: „Ja, gerne.“
Nur seine Stimme krächzte dabei ein wenig, das tat sie manchmal, wenn er überrascht wurde. Oder sich freute.
Der Nachbar achtete darauf, Ludger nicht zu blenden, kam herüber und streckte ihm die Hand hin:
„Ich bin Thomas. Willkommen in einem der schönsten Gärten, die ich je gesehen habe.“
Sie suchten gemeinsam und fanden die Schaufel, Thomas begleitete Ludger bis zum Tor. Er hielt die Taschenlampe so, dass ihrer beider Gesichter von unten beleuchtet wurden. Sie standen voreinander. Manchmal strich Ludger über die Blätter von Lorbeer, Sonnenbraut, Astern – einfach, weil er es liebte die zart geäderte Glätte unter seinen Fingern zu spüren. Dasselbe wollte er jetzt gerne mit Thomas Gesicht tun – die schmalen Wangen mit den beginnenden Bartschatten, die Lippen, in diesem Licht von allerdunkelstem Rot. Thomas nahm ihm die Werkzeugtasche ab, legte sie in die Schubkarre.
„Komm, wir trinken noch etwas bei mir – wenn du magst.“ Er sagte es leise. Ludger nickte und fand es das Natürlichste der Welt, dass Thomas ihm den Arm um die Schultern legte und ihn auf dem Weg zum Haus etwas an sich zog.

Martina Lenz, 2022

Veröffentlicht in introspektiv Magazin #3, Gelsing&Hoch Verlag, Essen 2022